In meinen Adern fließt kein Stahl und ich wurde nicht auf oder mit viel Kohle geboren, aber beim Anblick eines vom Schlackeabstichs glühenden Himmels werde ich weich. Sehe ich einen Förderturm, fallen mir die ungezählten Geschichten meines Opas und vieler anderer Bergleute ein. Ich weiß, was ein Arschleder ist, kann das Steigerlied in drei Varianten und wenn ich die Worte „Glück auf!“ höre, rieche ich Eisen und Kohlestaub. Montanindustriedenkmäler ziehen mich magisch an.
Du kannst mich aus dem Revier holen, aber nicht das Revier aus mir.
Februar 1997. Ohne darüber nachzudenken hielt ich meinem Vater die Einverständniserklärung unter die Nase und bat ihn um seine Unterschrift. Ohne zu zögern setzte er sie auf die Linie. Im zarten Alter von gut 13 Jahren hatte ich die Erlaubnis, dem Unterricht für einen Tag fernzubleiben und zu meiner ersten Demo [oder was ich dafür hielt] zu gehen.
„Was willst du denn da?“, fragte meine Sportlehrerin. „Ist dein Vater etwa Bergmann?“
„Nein ... der arbeitet bei der Stadt ... die ... die Oberstufenschüler haben gesagt, dass es wichtig ist, Solidarität zu zeigen und ...“
„So ein Quatsch. Sei froh, dass dein Vater Arbeit hat.“
„Mein Onkel arbeitet im Bergwerk Walsum —“
„Der findet sicher was Neues. Hör zu, wir sind ein Gymnasium. Du bist hier, weil du Abitur machen willst und studieren, oder?“
„Ja ... ich weiß zwar noch nicht, was, aber ...“
„Dann schwänz mal lieber nicht die Schule. Schon gar nicht für so was und Leute, mit denen du nichts zu tun hast. Das wirkt sich eventuell aufs Zeugnis aus — hast du daran schon mal gedacht?“
Meine Freundin aus besserem Hause wurde für die Einstellung des Vaters gelobt, der ihr die Teilnahme verbot. Weshalb, spielte keine Rolle. Seine Gründe waren jedoch weder pseudo-ideologisch noch anti-solidarisch. „Die Kohle hat keine Zukunft. Ob das nun noch zehn oder dreißig Jahre geht, ist egal. Die Vorkommen sind endlich und die Bergleute müssen der Wahrheit mal langsam ins Auge blicken.“
„Aber es geht doch ums Prinzip. Um Aufmerksamkeit.“
Der Vater meiner Freundin ließ keine Einwände gelten. „Die Aufmerksamkeit kriegen die auch so. Und fürstliche Abfindungen und Pensionen.“
Den Zettel hat sie dann mit der gefälschten Unterschrift ihrer Mutter eingereicht, was natürlich prompt aufflog und ihr einen Tadel einhandelte. Sie fehlte an diesem Tag trotzdem. Unterleibsschmerzen. Wir hätten noch nicht mal Sport gehabt.
Ich musste also ohne sie diesen Valentinstag beginnen, der ein wenig geschichtsträchtig roch, ein bisschen Abenteuer versprach und meinen sozialen Nerv traf, weil er Gerechtigkeit verhieß.
An jenem historischen Freitag warteten zwei Busse vor der Schule, Nachschub war bereits angefordert. Jemand winkte mich ran, quetschte mich in den zweiten und ich begann in meiner dicken Skijacke zu schwitzen. Weil es eng war, weil alle schwitzten und weil ich in diesem Moment begriff, dass ich keine Ahnung hatte, was ich überhaupt tat. Lehrer waren keine zu sehen, nur ein paar Oberstufenschüler und zwei, drei Eltern. Immerhin schienen die einen Plan zu haben, es galt also, gerade sie nicht aus den Augen zu verlieren.
Es war merkwürdig still im Bus; jeder kannte jemandem, den das Thema anging, oder war familiär selbst betroffen. Was eine Menschenkette ausrichten könnte fragte man sich nur selbst oder allenfalls hinter vorgehaltener Hand. Eine halbe Stunde, vielleicht vierzig Minuten waren wir unterwegs. Auf der Autobahn hupten sich die immer mehr werdenden Busse grüßend an, bildeten auf der Berliner Brücke eine Kolonne, trennten sich in der Stadt.
Es würde etwas Großes werden, nie da gewesen, vielleicht einmalig.
Wildfremde würden sich an die Hände nehmen, um temporär ein lebendiges Mahnmal zu werden. Falsch konnte das nicht sein, schließlich warteten schon beim Aussteigen Zeitungsreporter, Kameras und Radioredakteure.
Ein paar Grad über Null, grauer Himmel. Das Schwitzen ließ schnell nach und ich war froh, die Skijacke angezogen zu haben, besonders als ich erfuhr, dass wir wohl eine ganze Weile ausharren müssten, bis es losging. Wir standen in Trauben zusammen, Worte wie „Strukturwandel“ und „Zechensterben“ fielen. Zu uns Schülern gesellten sich Bergleute in Arbeitskleidung, teilweise mit grubenschwarzen Gesichtern, auf denen man klar die helle Spur der Tränen erkennen konnte. Männer wie mein Vater, den ich nie hatte weinen sehen, in seinem Alter und von seiner Statur. Schauer liefen mir über den Rücken und ich riss mir an der Zahnspange die Lippe blutig. Eine Klassenkameradin, deren Vater in der Papierfabrik arbeitete und die auch von der Sportlehrerin drangsaliert worden war, schaute ängstlich. Strukturwandel würde uns alle betreffen, auch die, die nicht im Bergbau beschäftigt waren. Da hinge so viel dran. Nicht nur die Zechen würden sterben.
Immer wieder fuhren langsam Autos der Orga vorbei. Mittels Megafon wurden wir auf dem Laufenden gehalten. Wie viele Menschen bereits gekommen waren, wie es in den anderen Städten aussah. Danke. Bitte. Achtung.
Irgendwann kam der Verkehr zum Erliegen, die Menschen gliederten sich in eine Reihe. Pechfackeln wurden ausgeteilt, jeder Fünfte bekam eine. Ich war eine Dritte.
Wieder ein Orga-Auto. Der Zeitpunkt war gekommen, man forderte uns auf, nun einander die Hände zu reichen. Links von mir ein Neuntklässler, den ich vom Sehen kannte, auch seine Eltern nicht bei der Ruhrkohle, aber der Opa hatte lange Jahre unter Tage gearbeitet und der Onkel war Steiger auf der Zeche Walsum. Rechts von mir ein waschechter aber ungewaschener Bergmann. Gelber Helm. Daneben ein orangefarbener Helm, Grubenwehr, und ein Anzugträger. Mienen wie auf einer Beerdigung.
„Kannst ruhig feste zupacken, Kleine. Da machste nix kaputt!“, sagte mein Bergmann lachend und seine weißen Zähne blitzten aus dem dunklen Gesicht hervor. Ich grinste ihn mit meinem Zahnspangenlächeln an und griff seine Hand etwas fester. Sollte ja nicht meinetwegen die Kette im wichtigsten Moment reißen.
Später las ich mal in einem anderen Zusammenhang, dass wenn viele Menschen eine Kette bildeten, die Energie jedes einzelnen spürbar würde und eine gewisse Dynamik von ihr ausginge. Ich erinnere mich, dass ich in diesem Moment tatsächlich tief Luft geholt habe und den Mann im Anzug fixierte, der gesenkten Kopfes eine der Fackeln hielt.
„Die Kette ist nun geschlossen!“
Langsam fuhr das Auto mit dem Megafon-Mann an uns vorbei. Er bat uns, noch ein paar Minuten so zu verweilen, wenigstens bis die Fackeln runtergebrannt waren und die Kameras den Moment eingefangen hatten.
Karl-Jarres-Str. 18-24, die großen gelben gemalten Hausnummern haben sich in meine Netzhaut eingebrannt und bis heute sehe ich sie ab und zu im Traum ganz klar vor mir. Die Brücke der Solidarität ist zu diesem Zeitpunkt noch keine zehn Jahre alt und nur wenige Minuten zu Fuß entfernt.
An diesem Tag war sie in den Nachrichten zu sehen, rot leuchtend über dem Rhein, bevölkert von friedlich demonstrierenden Menschen. 220.000 standen Hand in Hand nebeneinander, lückenlos, mehr als 90 Kilometer zwischen Neukirchen-Vluyn und Lünen. Die bis dahin längste Menschenkette in der Geschichte der Bundesrepublik.
Die großen Zahlen füllten noch ein paar Tage lang die Zeitungen, die sechs Fehlstunden dieses Tages gingen kommentarlos im Halbjahreszeugnis unter. Meine Freundin übt inzwischen einen Heilberuf aus, die Klassenkameradin ist diplomierte Übersetzerin geworden, unsere Sportlehrerin nicht empathischer.
Im Nachhinein betrachtet, hatte der Vater meiner Freundin recht.
Und dennoch fühlt es sich nicht falsch an, damals ein Zeichen gesetzt zu haben, auch wenn manche der Forderungen nach heutigem Kenntnisstand weniger unterstützenswert waren. Es war das richtige Signal für den Kohlegipfel, der einen Monat später stattfand.
Die Energiewende kam und heute, 22 Jahre nach diesem Akt der Solidarität, hat auch die letzte Zeche im Ruhrgebiet geschlossen, Kohle wird nur noch am Geldautomaten gefördert, unter Koks verstehen die Dreizehnjährigen eher Benzoylecgoninmethylester, sprich: Kokain. Der wesentliche Teil des Strukturwandels ist abgeschlossen, der Klimawandel bewegt die Menschen. Und wieder [aber diesmal insbesondere] ist es die Jugend, die freitags nicht in die Schule, sondern auf die Straße geht, um etwas zu retten, das kaum noch zu retten ist. „Die Welt hat keine Zukunft. Ob das nun noch zehn oder dreißig Jahre geht, ist egal. Die Ressourcen sind endlich und die Menschen müssen der Wahrheit mal langsam ins Auge blicken.“
Gedanken zum Erdüberlastungstag. Man verzeihe mir den Plottwist.
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Frank (Mittwoch, 31 Juli 2019 00:25)
Ich war damals 34, Jahre und als RAG-Mitglied, Betroffener. Ich stand in Dortmund in der Kette. Es war schon emotional. Ich habe es geschafft, ich ging 21 Tage vor der letzten Schließung in den Vorruhestand. Glück auf!
Andreas Doczekala (Mittwoch, 31 Juli 2019 13:22)
Ich war im 2. Lehrjahr zum Ver- und Entsorger und im Zentrallabor der Ruhkohle auf Pluto angelegt. Wir sind damals nach Essen-Kray gefahren und standen in der Nähe der Kaserne.
Ich habe damals in vierter Generation im Bergbau angefangen und meine Eltern waren nicht ganz so begeistert. Mein Vater ist damals früh vom Pütt weg und hatte zu der Zeit einen LKW in einem Garten- und Landschaftsbaubetrieb gefahren. Er war so begeistert von der Sache mit der Kette, dass er mit seinem LKW die Auffahrt zur A40 als Kettenglied gesperrt hatte.
Ein Jahr später habe ich auf Lohberg im Umweltschutz unter Tage angelegt. Meine schönste Zeit.
Glückauf!