Frau Schwarz vom Ministry of silly ideas [dt. Ministerium für verrückte Ideen] macht heute einen Ausflug nach Utopia und begibt sich auf die Spuren von Thomas Morus.
Im Rahmen des URBACT-Projekts für mehr Bürgerbeteiligung haben wir Active Citizens eine Hausaufgabe aufbekommen. In »Vision Impossible« habe ich erläutert, wie es zu der Idee kam, sich Dinslaken im Jahr 2031 vorzustellen. Um ein Beispiel für unsere Arbeitsgruppe zu haben, hatte ich seinerzeit einen fiktiven Zeitungsartikel vorgestellt. Beim Sonntagsfrühstück kam das Thema nach einer lokalpolitisch ereignisreichen Woche noch einmal auf und führte zu der Idee, etwas weiter zu gehen. Vielleicht sogar über den von URBACT geforderten Maßstab hinaus, dass es zwar ambitioniert, aber realistisch sein sollte.
Daher schauen wir jetzt gemeinsam eine Ausgabe von
Utopia-TV – die Nachrichten
»Es ist Freitag, der 14. Februar 2031. Guten Abend, verehrtes Publikum, und willkommen bei den Tagesthemen.
Europa schaut heute auf die Stadt Dinslaken, wo in diesen Stunden Geschichte geschrieben wird. Als erste Stadt in Deutschland nimmt Dinslaken an einem fünf Jahre dauernden EU-Modellprojekt für direktere Demokratie teil. Dort und in sieben weiteren europäischen Städten werden die bestehenden Kommunalparlamente beurlaubt und vorübergehend durch direkte Bürgerentscheide ersetzt. Ein absolutes Novum, das im Zuge der Digitalisierung durch die Coronakrise ermöglicht wurde. Aus Dinslaken berichtet für uns Lisa Müller.«
»Die Skepsis war groß bei den Stadtverordneten, als im Jahr 2023 der Vorschlag an sie herangetragen wurde, beim Projekt ›DIRECT‹ mitzumachen. Auch wenn es niemand offen gesagt hat: Der drohende Verlust von Einfluss, Einnahmen und Entscheidungsgewalt sorgte anfänglich für Protest und Ablehnung. Die Idee, alle vom Stadtrat zu beschließenden Angelegenheiten in eine direkte Abstimmung durch die Bürger*innen zu überführen, schien utopisch. Man unterstellte den Bürger*innen mangelndes Interesse, fehlendes Fachwissen und befürchtete Manipulation im großen Stil.
Es ist den Expert*innen von URBACT zu verdanken, dass mit EU-Fördergeldern die digitale und analoge Infrastruktur ermöglicht wurde, um den Anreiz zur Partizipation zu erhöhen. Den Stadtverordneten wurde dabei eine völlig neue Rolle zuteil. Sie stimmen nicht mehr vertretend für die Bürger*innen ab, sondern erarbeiten – unabhängig sowie in Fraktionen – die Grundlagen für die Beschlüsse. Sie sind nun Erklärer, Vermittler und Berater, die in Präsenz- sowie Videosprechstunden ihre Arbeit erläutern und die Möglichkeit haben, bei den Bürger*innen um deren Stimme zu werben. Sie selbst stimmen selbstverständlich auch mit ab. Bequem vom registrierten Smartphone-Account in der Mittagspause, vom Frühstückstisch via Brief oder beim Behördengang mittels Stimmkarte. Erreicht werden so alle knapp 45.000 Wahlberechtigten sowie zusätzlich in Angelegenheiten des KiJuPa weitere 15.000 Kinder und Jugendliche. Probeabstimmungen der letzten sechs Monate haben gezeigt, dass eine Beteiligung von bis zu 80 % möglich ist. Das Spannende: Die Bürger*innen haben teilweise anders abgestimmt als ihre bislang gewählten Vertreter. Dies führte nach viel Aufklärungsarbeit durch die URBACT-Expert*innen zum Umdenken bei den Stadtverordneten und schließlich zur mehrheitlichen Zustimmung, als es um die Teilnahme am Modellversuch ging. Neben mir steht Burak Utlu, parteiloser Stadtverordneter der Stadt Dinslaken. Herr Utlu, Sie haben gerade den vorerst letzten Beschluss dieses Stadtrats und damit seine Beurlaubung mit unterzeichnet, wie fühlt sich das an?«
»Es ist für uns alle ein denkwürdiger Tag, aber letztlich nur logische Konsequenz. Meines Erachtens ist das Kommunalparlament in seinem jetzigen Zustand ein Anachronismus. Ich war von Anfang an dafür, unseren Bürger*innen mehr Möglichkeit zur Bestimmung und Co-Kreation zu geben und nicht nur die indirekte Mitbestimmung über gewählte Vertreter zu überlassen. Wir erhoffen uns davon, dass durch unsere Erörterung und Aufklärung im Vorfeld die Bürger*innen eine fundierte Entscheidung treffen, da sie sehen, dass alle Beteiligten gehört und berücksichtigt werden, vor allem aber nicht mehr die Interessen einzelner oder kleinerer Gruppen im Vordergrund stehen. Unser Auftrag ist zwar ein anderer geworden, aber unsere Arbeit nicht weniger. Ich habe in den letzten sechs Monaten wesentlich mehr Wertschätzung durch Bürger*innen erfahren als in den gesamten drei Jahren davor. Das tut gut. Zwei Bürgerinitiativen haben sich bereits aufgelöst, weil es ihrer nicht mehr bedurfte. Wie ich finde, spricht das für sich beziehungsweise die Vorgehensweise. Wir werden eng begleitet von den URBACT-Expert*innen und haben wahnsinnig viel gelernt in den letzten Monaten. Aber auch wenn heute ein historischer Moment ist, der spannende Teil kommt erst noch.«
»Wie gehen Sie mit den offenbar wenigen, aber vorhandenen, Zweiflern um?«
»Der Erfolg gibt uns bislang recht. Eine Gesellschaft lebt natürlich von Kompromissen und wir werden vermutlich nie 100 % Zufriedenheit erreichen. Wer jetzt aber noch der Meinung ist, dass das der falsche Weg ist, muss entweder mehr Zeit aufwenden und überzeugendere Argumente aufbringen oder vielleicht seine Prämissen hinterfragen.«
»Danke, Herr Utlu. Utopia-TV wird sicherlich nicht das letzte Mal einen Blick auf dieses Projekt geworfen haben. Und damit gebe ich zurück ins Studio.«
Ich wiederum gebe zurück an meine verehrte Leserschaft und bitte um Kommentare.
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