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Friede, Freude, Eierkuchen – Auf dem Weg zur Weltmeisterschaft

Nächste Woche ist das Transnational Meeting der URBACT Active Citizens in Dinslaken.


Wir empfangen Delegationen aus Frankreich, Portugal, Estland, Rumänien, Italien und Tschechien.

Es ist die erste Zusammenkunft seit Beginn des Krieges in der Ukraine und wir stehen wenige Monate vor Projekt-Ende. 


In den vergangenen zweieinhalb Jahren haben wir unter Impulsgabe und Reflexion von Experten einen integrierten Aktionsplan entwickelt, um mehr Bürgerbeteiligung in unseren Städten zu etablieren. 

Am Anfang konnte ich mir nicht vorstellen, was ein „Integrierter Aktionsplan“ sein soll. Im Prinzip ist es eine Handlungsanleitung (Aktionsplan), die in alle Richtungen und Ebenen Betroffene integriert. Sprich: Alle Stakeholder, jeder, den ein städtisches oder ziviles Vorhaben betrifft, sind eingeladen und aufgefordert, sich zu beteiligen. 

Nehmen wir als Beispiel die Nachnutzung des Trabrennbahnareals. Ein städtisches Entwicklungsvorhaben, das nicht nur die bisherigen Anwohner betrifft. Diverse Organe der Stadtverwaltung sind involviert, Umweltschutzorganisationen, Architekten und Investoren. Als eines der ersten Projekte in unserer Stadt sind aber nicht nur direkt Betroffene gefragt, ihre Vorstellungen der Neuentwicklung einzubringen, sondern die ganze Stadtgesellschaft. Jeder, den es interessiert, kann sich einbringen. Jeder wird im Rahmen der Möglichkeiten berücksichtigt. 


Was hat das mit dem Eingangsabsatz zu tun?


Wir haben den Krieg nicht vor unserer Haustür. Dennoch geht er uns allen nahe. Wir sehen jeden Tag, was es bedeutet, wenn Autokraten an der Macht sind, Falschinformationen ungehindert verbreitet werden können und eine wachsende Demokratie, die sich aus Korruption und Oligarchie herausarbeiten will, militärisch zerstört wird. 


Wir leisten mit unserer Arbeit keine Hilfe für die Ukraine. Auch eine Gedenkminute und mahnende Worte sind nur Solidarität, aber keine Unterstützung, die den Ukrainer*innen aus ihrer Situation hilft. 

Aber es gibt dennoch einen Zusammenhang, wenn er auch noch so an den Haaren herbeigezogen scheint. 


Wir pflegen unsere Demokratie und verbessern sie nach Kräften. 


Man kann das jetzt belächeln und für übertrieben halten. Man kann aber auch einen Blick auf den weltweiten Demokratieindex werfen. 

Deutschland rangiert nach Daten aus 2020 auf Platz 5, hinter Dänemark (1), Norwegen, Finnland und Schweden. 


Wir gelten als funktionierende Demokratie. Ab Platz 27 wird es defizitär, spätestens ab Platz 153 von 176 herrscht harte Autokratie. (Nur mal so am Rande: Die USA haben eine defizitäre Demokratie, Platz 36, die Ukraine galt 2020 als hybrides Regime, Platz 92.)


Vereinfacht gesagt leben wir im Schlaraffenland der Mitbestimmung. Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus. Nur halt nicht direkt. 


Das allein ist keine Gefährdung der Demokratie. Auch ein kleiner zweistelliger Prozentsatz rechter Parteien stellt keine akute Bedrohung dar. Wir dürfen sie nur nicht unbehandelt lassen, sonst wird das chronisch und wir werden sie nicht mehr los. 


Mehr Mitbestimmung, mehr Beteiligung und Ko-Kreation schon in frühesten Stadien von Vorhaben sind da ein Baustein. Ja, einer mit Glitzer und Regenbogen. Ein schöner.


Je mehr Menschen direkten Einfluss auf ihre Umgebung nehmen können, umso gerechter wird das Ergebnis. 

Fast genauso lange wie ich unsicher war, wie ich mir den Integrierten Aktionsplan vorstellen sollte, war mir nicht ganz klar, was meine Rolle in dem Ganzen sein sollte. 

Klar, als Bürgerin einer der teilnehmenden Städte, die ab und zu halt mal was zu Stadtentwicklung auf ihrem Blog geschrieben und ein paar Semester Politik, Verwaltungswissenschaften und Soziologie studiert hat, war das Thema jetzt nicht komplett neu. Ich bin in der Stadt sehr heterogen vernetzt, ambiguitätstolerant und diskussionsfreudig. Auch alles Gründe, dass MICH das Projekt interessiert hat. Aber warum sollte sich das Projekt für mich interessieren?

Weil all diese Komponenten zusammen auch den Kern der Agenda treffen. Jemand aus der Mitte, der nicht für eine Organisation oder die Verwaltung spricht, der außerhalb Impulse sammelt und einbringt. 


Über die zweieinhalb Jahre habe ich also gefühlt hundert Mal das Schildchen „Diversität“ hochgehalten. Daran erinnert, dass wir nicht nur aus weißen alten Männern und instagrammenden jungen Frauen bestehen. Dass wir eben auch alleinerziehende Mütter behinderter Kinder sind, junge Männer mit Migrationsgeschichte, Kinder und Jugendliche, die uns über- und mit dem Klimawandel leben werden, armutsbetroffene Senior*innen, nicht-binäre Menschen und viele andere Marginalisierte mehr. Für jeden [dieser] Menschen muss Bürgerbeteiligung ein sicherer Raum sein, jeder muss sich beteiligen dürfen und können. 

Ich habe dieses Schildchen nicht hochgehalten, weil die anderen sich nicht für Diversität interessiert haben; bei der Vielzahl der Themen und Ebenen geriet aber der Gedanke daran manchmal außer Acht, auch diejenigen mitzunehmen, mit einzubeziehen, die eben nicht zur typischen Klientel der Beteiligungskultur gehören. Nicht böswillig oder überhaupt bewusst. Aber es passierte halt manchmal. 


Mit dem, was wir erarbeitet haben und dem Rat der Stadt Dinslaken zur Entscheidung vorlegen werden, geben wir Dinslaken (der Verwaltung und den Bürger*innen) nicht nur eine Handlungsempfehlung, sondern auch ein Werkzeug zur Sicherung und Verbesserung unserer Demokratie an die Hand. 


Gegen einen Angriffskrieg und atomare Bedrohung hilft das nicht. 


Wer bis hierhin gelesen hat und mir einigermaßen gefolgt ist, dem ist das klar. Ich wollte es aber trotzdem noch mal gesagt haben. Demokratie ist in vielerlei Hinsicht fragil, aber auf ebenso viele Arten stabilisierbar. 

Ganz am Anfang haben wir uns mit Vorurteilen zu Bürgerbeteiligung beschäftigt. „Participation? Hell, no! – Bürgerbeteiligung? Bloß nicht!“ war das Motto eines Rollenspiels dazu.


„Das ist alles nur Fassade, es werden eh die vorgefertigten Pläne durchgezogen.“

„Schein-Beteiligung, um Bürger*innen ruhig zu stellen.“

„Das führt doch nur zu Chaos und wird zu teuer!“

„Experten werden einen Weg finden, Wünsche abzuschlagen.“


Diese und viele andere Vorurteile kann auch der IAP nicht entkräften, wenn man nicht daran glauben will. Wenn man überzeugt ist, dass sich eine Verwaltung und die Politik nicht ändern werden, wird man die Möglichkeiten auch nicht wahrnehmen, die geboten werden. Wir werden nicht jeden überzeugen können, dass Beteiligung eine Chance verdient hat. Es kann uns aber auch niemand vorwerfen, dass wir es nicht versucht haben. 


Unsere Projekt-Partnerstädte haben in den zweieinhalb Jahren sehr ähnliche Erfahrungen gemacht, ähnliche Ergebnisse erzielt, viele ähnliche Punkte in ihren IAPs und stehen vor ähnlichen Herausforderungen zur Umsetzung. 


Wir sind nicht Demokratie-Weltmeister, nicht mal auf dem Treppchen. Aber Platz 5 ist okay. Ist deswegen gleich auch alles Friede, Freude, Eierkuchen? 

Nope. 

Klar, Bürgerbeteiligung löst weder die Klimakrise, noch hält sie die Inflation auf. Sie bringt auch nicht die unbereinigten Spritpreise von 1993 zurück und sorgt auch nicht für bezahlbaren Wohnraum. Noch mal: Bürgerbeteiligung ist nur ein Baustein der funktionierenden Demokratie. Aber einer, der zu einer tragenden Säule gehört. Dem direkten wie indirekten Entscheiden über das, was in unserem Land geschieht. 


Vor dem Hintergrund, dass gerade ein zur Demokratie aufstrebendes Land in Europa in Trümmer gelegt wird, werden wir uns nächste Woche auch vor Augen führen müssen, wie privilegiert unsere Situation ist. Wir dürfen aber aufgrund dessen nicht Bürgerbeteiligung zum Nice-to-have oder gar Luxus erklären. 

Bistrita, eine der Projekt-Partnerstädte, arbeitet hart daran, die defizitäre Demokratie in Rumänien zu einer funktionierenden zu wandeln. Mit bescheidenen Mitteln und gegen überholte politische Strukturen.

Wenn wir als wesentlich reicheres Land Bürgerbeteiligung belächeln, sind wir ein schlechtes Vorbild. 


Mit mehr Bürgerbeteiligung werden wir vermutlich auch nächstes Jahr nicht Demokratie-Weltmeister. Wir rutschen aber zumindest nicht weiter nach unten, wenn wir das Angebot dazu machen. Ein verbindliches, ernstzunehmendes. 


Und so pathetisch dieser Artikel hier und heute klingen mag, so ernst ist es mir damit. 


Danke fürs Lesen. 

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Kommentare: 2
  • #1

    Guido (Dienstag, 29 März 2022 15:58)

    Ich bin zwiegespalten wenn es um Bürgerbeteiligung geht.
    Es sind dann noch mehr unqualifizierte Leute da, die ihren Senf dazugeben.
    Mir persönlich reichen da schon die vorhandenen Entscheider:innen.
    Siehe z.B. Brexit

  • #2

    Larissa Schwarz (Dienstag, 29 März 2022 16:21)

    Hallo Guido!
    Ich kann deine Bedenken verstehen, genau so haben wir es auch als Kontra-Argument in den IAP aufgenommen.
    Wir begegnen solchen Fehlentscheidungen bzw. Lemming-Entscheidungen schon im Vorfeld, indem wir uns die Frage stellen: „Warum ist das Projekt gescheitert?“ – noch bevor überhaupt etwas entschieden ist. Sprich: Wir nehmen an, was alles schiefgehen kann und sensibilisieren die Bürger*innen dafür.
    Bürgerbeteiligung heißt ja nicht, dass Bürger wie bspw. beim Bahnhofsvorplatz nur über Ja und Nein abstimmen. Bürgerbeteiligung wie sie etabliert werden soll bedeutet, dass der gesamte Prozess (wie bspw. Nachnutzung Trabrennbahn) gleichermaßen von Bürger*innen wie Expert*innen begleitet bzw. im besten Fall gemeinsam kreiert wird.
    Klar, das kann bei sehr einseitiger Teilnahme zu Ergebnissen führen, die dann wiederum Anlass zu Lästereien/Unmut/Vandalismus etc. bieten. Aber: So wie wir Bürgerbeteiligung anlegen, und das schrieb ich ja auch im Beitrag, soll es ein sicherer und einladender Raum für alle sein.
    Der IAP ist mit einem „Werkzeugkasten“ ausgestattet, der auch die Mittel beinhaltet, WIE man möglichst heterogene Teilnehmer für Beteiligung findet und bei der Stange hält. In den richtigen Händen ist die Gefahr für Rohrkrepierer dann also eher geringer als jetzt.