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Neulich in einem Paralleluniversum ...

 

 

Die drei weisen Männer Heinz Wagnins – im Folgenden Heinz I, Heinz Rebrück – ab hier Heinz II – und Jürgen Munnbach – einfach nur Jürgen – stehen vor dem Haus Hiesfeld und warten auf einen Tisch. 

 

Heinz I: Hm. Irgendwas ist schiefgelaufen … mein Benz hat keine eingebaute Vorfahrt mehr und die Wurstfrau meinte: „Beteiligung ist kein Brotaufschnitt, da müssen Sie sich ‚genauer ausdrücken‘, bevor ich Ihnen eine Scheibe davon abschneide!“

 

Heinz II: Ach, bei dir auch? Im Schreibwarenladen wollte man mir gestern Klarsichthüllen für mehr Transparenz im Rat mitgeben. 

 

Jürgen: Mein Hausarzt meinte heute zusammenhanglos, dass man bei Blutsbrüderschaft wegen Thrombose und so Sachen wie HIV, Hepatitis und Syphilis aufpassen muss. 

 

Heinz I und II unisono: Iiiiiiiiih. Thrombose ...

 

Heinz I: Warum sind die Leute so? Was haben wir denen getan?

 

Von oben schwebt eine anthropomorphe Giraffe auf die Terrasse. Gleich eines Deus ex machina breitet sie die Arme aus und wackelt mit dem rechten Zeigehuf, um die drei Weisen zum Schweigen zu bringen. 

 

Giraffe: Meine Herren, was sind denn das für Töne? 

 

Die drei Weisen recken die Köpfe und schauen misstrauisch. 

 

Heinz II: Ich kenn Sie irgendwo her …

 

Giraffe: Oh. Ich habe viele Gesichter … das ist gut möglich.

 

Heinz I: Und was soll der beknackte Auftritt hier jetzt?

 

Giraffe: Meine Herren, ich darf doch sehr bitten. Das ist ein Jahrhundertereignis. Wann ist denn zuletzt eine Giraffe erschienen und hat –

 

Jürgen: Neulich im Rat! Das waren Sie!

 

Giraffe: Jahrhundertereignis! 

 

Heinz II: Ich hab Hunger, wann wird denn endlich ein Tisch frei?

 

Giraffe: Ich bin ja hier, um Ihnen das zu erklären. 

 

Alle drei: Ach!?

 

Giraffe: Ja. Kostenlos sogar. Wir wollen ja den Stadtsäckel schonen. 

 

Heinz II: Ich hab noch nie Giraffensteak gegessen. 

 

Heinz I: Schmeckt nicht. Nicht mal mit Sauce béarnaise. 

 

Jürgen: Weißt du noch, als wir in China –

 

Die Giraffe räuspert sich. Laut. Die Erde bebt leicht. Regen setzt ein. 

 

Heinz II: Ach, Schiet. Wie lange dauert das denn noch?

 

Giraffe: Ich hab das bis in die nächste Ratsperiode geschoben. Wir haben also Zeit. 

 

Sie schnippt mit einer Hufe und plötzlich bewegen sich Regentropfen, vorbeifahrende Fahrzeuge und Fußgänger in Zeitlupe. 

 

Jürgen: Das ist respektlos! Ich verlange eine Erklärung!

 

Giraffe: Ich hab ja schon dazu angesetzt, aber je öfter ich unterbrochen werde, desto länger wird das hier dauern. 

 

Heinz I: Sie sind nur eine einzelne Giraffe, was wollen Sie schon ausrichten? Ich geh da jetzt rein und –

 

Als er versucht, die Hand auszustrecken, zieht sie sich wie Kaugummi. Heinz I entfährt ein Schrei. Jürgen bekreuzigt sich. 

 

Heinz II: Sie ist eine Hexe!

 

Die Giraffe rollt mit den großen Augen und neigt den Kopf. 

 

Giraffe: Von mir aus auch das. Wenn wir das in den korrekten historischen Kontext setzen, waren Hexen nichts anderes als weltoffene, belesene Frauen, die sich in Heilkunde, Psychologie und –

 

Heinz I: Jürgen, alles gut?

 

Jürgen: Ja, wird gleich wieder. Die Pumpe … weißte!?

 

Giraffe: … Botanik auskannten. So. Herr Mannbuch, Sie atmen jetzt mal schön in die Popcorntüte ein und aus und dann geht das auch gleich wieder. 

 

Jürgen atmet. Heinz II ist vom Popcornduft hypnotisiert.

 

Heinz II: Ich möchte meine alte Realität zurück. Und Essen!

 

Paradoxerweise erscheint ein älterer Herr auf dem Fahrrad in normaler Geschwindigkeit. Er grinst breit, schüttelt das weiße Haupt und überreicht Heinz I einen Brief.  Der schaut ihn verständnislos an, blickt auf das Kuvert. Der Bote in der gelben Jacke radelt davon.

 

Heinz I: An die drei „Weisen“.

 

Jürgen: Da hält sich wohl jemand für besonders witzig.

 

Die Giraffe verdreht die Augen und stöhnt verächtlich. Mit einem Huf tippelt sie genervt.

 

Heinz II: Was steht denn da?

Heinz I: Kommentare von Facebook.

 

Jürgen: Ach, klopp in die Tonne.

 

Heinz II: Gib her, ich werf das weg.

 

Die Giraffe stöhnt erneut vor Unverständnis.

 

Heinz II: Ist die kaputt?

Giraffe: Meine Herren, Sie haben Harry Potter gesehen?

Heinz I: Ja, mit meiner Frau. Wieso?

Heinz II und Jürgen sehen sich schulterzuckend an.

 

Giraffe: Sie erinnern sich daran, was mit ungeöffneten Briefen geschieht und was ein Heuler ist?

 

Mit Heben der Stimme bei „ist“, um die Frage zu betonen, erscheint der weißhaarige Radler erneut. Er übergibt drei Umschläge, an jeden einen, auf jedem steht „Facebook-Kommentare“.

 

Jürgen: Ich hab jetzt aber die Nase gestrichen voll!

 

Heinz II: Und ich hab Hunger!

Heinz I: Wenn ich mich richtig erinnere … Also, wenn wir das nicht lesen, kommen immer mehr Briefe.

 

Heinz II: Ja, und?

Heinz I: Na ja, da wird irgendwann der DIN-Service nicht mehr mit fertig. Und zum Schluss kam so eine explodierende Eule.

 

Heinz II: Vielleicht explodiert ja dann die Giraffe und wir sind sie los.

 

Giraffe: Die Freude muss ich Ihnen verderben, auch ich komme immer wieder.

 

Die Giraffe grinst über ihr kindisches Wortspiel mit „kommen“ und wutscht und wedelt mit der Hand, die Herren mögen ihre Post lesen.

 

Heinz I: Na gut … also, hier schreibt ein Chris. „ Darf ich das jetzt so verstehen dass der Bürgerwille mal wieder außen vor gelassen wird und nur der Kommerz im Auge wichtig ist. Wir hier in der Nähe haben jetzt noch Ruhe und genießen die Idylle die nun zerstört werden wird. Sehr sehr schade zumal wir hier in Dinslaken mehr als genug Plätze und Möglichkeiten haben Events abzuhalten. Mal abgesehen davon dass der Geldbeutel der Bürger immer schmaler wird und es sich kaum noch wer leisten kann für Freizeit Geld auszugeben. Aber Hauptsache die Wohnmobilplätze kommen hierhin da wird wieder ein Klientel bedient was nicht im unteren Einkommensbereich liegt. Und dafür wird hier die Natur zerstört ? Ich kann es nicht fassen.“

 

Heinz II: Ein Markus sagt: „War doch mal klar. Aussitzen bis die Frist verstreicht. Hinhaltestrategie par exelence.“

 

Jürgen: Ach, die haben Gefühle … Wegen dem Freibad.

 

Giraffe: Wegen des Freibads …

 

Jürgen: Ja, sag ich doch.

 

Die Giraffe seufzt und beißt sich auf die lange schwarze Zunge.

 

Heinz I: Da meint so ein Ben: „Ein unfassbarer Kopfschmerz. Das Ganze.“ Ja, dann soll er doch Tabletten essen … Wo ist das Problem?

 

Giraffe: Das Problem ist, dass –

 

Heinz II: Ha, der hier ist lustig. „Es gab Popcorn.“

 

Jürgen: Ja, gab es.

 

Heinz II: Wieso hab ich keines bekommen?

 

Heinz I: Wir vergeuden hier unsere Zeit.

 

Giraffe: Nein, Sie vergeuden meine Zeit. Und mit meine meine ich die die der Dinslakener Bürger*innen.

 

Heinz II: Sie spricht so komisch, hat sie was im Hals?

Giraffe: Das nennt sich Glottisschlag. Erkläre ich ein anderes Mal. Direkt nach dem Kurs für barrierefreie Ratssitzungen. Nur ganz kurz: behindertengerecht und barrierefrei sind zwei völlig verschiedene Welten.

 

Jürgen: Mir wird das hier zu doof.

 

Giraffe: Halte ich jetzt einen Vortrag über den Begriff ,doof‘ und warum er problematisch ist oder … ach, scheiß drauf, ich will ja auch nach Hause …  

Also, haben wir uns jetzt verstanden?

 

Jürgen: Ich bin gewählter Vertreter der Bürgerinnen und Bürger. Wenn ich das entscheide, dann ist das so, wie die das wollen.

 

Heinz I: Manchmal muss man sich mit Neuerungen ja auch erst mal anfreunden.

 

Giraffe: So wie Sie mit den sozialen Medien?

 

Heinz II: Ach, sozial … was ist denn daran sozial?

 

Giraffe: Es ist barrierefrei, kostenlos, man kann seine Meinung frei äußern und Kontakte knüpfen, pflegen, ausbauen. Und man kann Katzenvideos teilen.

 

Heinz II: Katze, hab ich auch noch nie gegessen.

 

Heinz I: Schmeckt auch nur wie alter Hase.

 

Jürgen: Aber man braucht stabiles Internet.

 

Giraffe: Ja, da könnte man auch ansetzen, aber wir stehen hier wegen … na, wer kommt drauf?

Heinz I: Was haben denn alle mit diesem doofen Freibad? Jetzt ist aber mal langsam gut.

 

Heinz II: Da kommt schon wieder der Radfahrer …


Tatsächlich, der Radfahrer erscheint und kippt einen großen Sack voller Briefe aus, die alle dieselbe Aufschrift tragen.


Radfahrer: Ich komm gleich noch mal wieder, die Leserbriefe an die Zeitungen und Schreiben an die Verwaltung habe ich noch zwischengeparkt.

 

Heinz I: Muss das sein? Wir sind doch zivilisierte Leute.

 

Die Giraffe schaut demonstrativ an sich herab.

Jürgen: Lass mal lieber lesen, das nimmt hier sonst kein Ende.

 

Die Giraffe nickt wissend.

 

Heinz II: Ha, ich glaub, der Norbert ist sauer: „Dämlicher hätte man es kaum anstellen können.. In dieses Projekt haben viele Menschen ehrenamtlich ihre Zeit investiert - und dafür im Gegensatz zu den Ratsleuten keine Aufwandsentschädigung bekommen. Sie taten dies, weil ihnen die Sache wichtig war. Mit professioneller Begleitung haben sie ein Gesamtkonzept erstellt. Und nun kommen die Leute, denen ohne rechtliche Zweifel die Entscheidungsvollmacht zusteht und zeigen diesen Menschen die lange Nase....“

 

Heinz I: Das ist bestimmt justiziabel. Dämlich? Ich bin ein Mann, also ist das herrlich!

 

Jürgen: Ich weiß ja nicht, wer dieser Frank ist,  aber … hört euch das mal an: „CD-U-BV haben offenbar nicht einmal den Ar*** in der Hose, sich der Diskussion zu stellen, was wiederum zum gesamten Vorgehen passt - alles still und heimlich.“

 

Heinz I: Welche Diskussion denn? Da gibt es nichts zu diskutieren. Wir sind die Mehrheit.

 

Die Giraffe seufzt.

 

Heinz I: Heimlich war doch da auch nix, wir saßen hier und haben –

 

Heinz II: Stimmt, wir haben lecker gegessen. Wann gibt es denn endlich was? Ich wollte auch endlich ein Stück vom Kuchen …

 

Jürgen schaut die Giraffe grimmig an.

 

Giraffe: Ja, bitte?

 

Jürgen: Das ist alles Ihre schuld!

 

Giraffe: Niiiicht ganz. Also, dass wir uns die Ärsche nassregnen lassen: ja. Dass wir überhaupt hier stehen: nein.

 

Heinz I: Dann machen Sie doch da mal Schluss jetzt und wir haben alle unsere Ruhe!

 

Giraffe: Geht nicht. Meine Katze lässt mich erst wieder rein, wenn das erledigt ist. Und wenn wir nicht hinnemachen, kommt gleich wieder der Radfahrer …

 

Heinz II: Und was sollen wir tun?

 

Giraffe: Endlich stellt mal jemand die richtige Frage. Sie sollen zuhören. Im Sinne von lesen. Dann reflektieren. In den direkten oder indirekten Dialog gehen und so handeln, wie es die demokratische Mehrheit der Dinslakener*innen wünscht, ohne dabei der Stadt Schaden zuzufügen. Sei es monetärer, umweltbedingter oder sonstiger.

 

Jürgen: Aber das haben wir doch.

 

Giraffe. Das war ein Traum.

 

Jürgen: Oh.

 

Giraffe: Jap. Aber ich will mal nicht so sein. Wenn ihr jetzt brav alle Kommentare zu Ende lest, mit mindestens 168 Bürger*innen, Vereinen und Verbänden einen direkten Dialog führt und euch öffentlich entschuldigt, geb ich ein Eis aus.

 

Heinz II: Eis … Lecker.

 

Heinz I: Im Hörnchen?

 

Giraffe. Nein, im Becher. Mit Löffel.

 

Jürgen: Die verarscht uns.

 

Giraffe: Dasselbe wollte ich eigentlich von Ihnen sagen, aber hab es mir verkniffen, weil ich nicht unhöflich sein wollte. Aber wo wir gerade offen sprechen: wollen Sie die Bürger*innen echt verarschen und glauben Sie wirklich, dass die es nicht merken und sich nicht wehren, nur weil Sie eine Mehrheit in einem Kommunalparlament haben?

 

Heinz I: Das haben wir immer so gema–

 

Jürgen: Sie erwarten doch jetzt aber keine Entschuldigung!?

 

Jürgen lacht, Heinz I und Heinz II fallen vorsichtig ein. Es donnert. Blitzt. Eisregen setzt ein. Im Haus Hiesfeld flackern Kerzen, eine stimmungsvolle Geräuschkulisse dringt nach außen, es duftet herrlich nach köstlichen Speisen und bestem Wein.

 

Giraffe: Nein, nein … ich erwarte gar nichts. Wer nichts erwartet, wird halt auch nicht enttäuscht. Wer aber die Augen und den Geist schließt, wird auch nicht erleuchtet …

 

Es blitzt und donnert erneut. Die Giraffe erhebt sich senkrecht in die Lüfte, winkt fröhlich mit einer Hufe und klimpert mit den langen Wimpern. Ehe sich die drei Weisen versehen, kommt der Radfahrer im Friesennerz auf die Terrasse. Er winkt einen Kipplaster heran und deutet lachend auf die Mulde.

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Wolfgang Peetz (Mittwoch, 12 Oktober 2022 23:23)

    Toll geschrieben, witzig-ironisch und gut für ein politisches Sketch auf der Bühne. Ich fürchte nur, daß gerade einmal 20% der in Schland schlendernden Menschen Ihrem intellektuellen Niveau werden folgen können.