„Wenn dein Herz nicht mehr mitspielt, bist du ein Stein.“ – Über das Portrait von Jan Jessen


Seit meiner Kindheit liegt auf meinem Frühstückstisch die NRZ. „Eine Volkszeitung, einfach gehalten“, wie mein Politiklehrer sie seinerzeit abzuwerten pflegte. „Aber besser als keine Zeitung zu lesen.“ Er empfahl die Frankfurter Rundschau, die Süddeutsche oder Frankfurter Allgemeine. Was Großes. Wo die wichtigen Zusammenhänge drinstehen. 

In der Mittelstufe verstand ich den Duktus dieser Blätter noch nicht. „Ihr müsst euch täglich da durchquälen, irgendwann begreift ihr es. Irgendwann werden euch Sachen vertraut vorkommen, verständlich werden.“

Fair point, lesen lernt man nur durch lesen. Aber selbst als Schülerabo konnte ich mir diese Zeitungen nicht leisten und meinen Eltern war das alles zu weit weg. 

Im Englisch-LK lernte ich den Unterschied zwischen broadsheet und tabloid kennen, analysierte im Deutsch-LK den „Stil“ der Bild. Außerhalb der Schule bildete sich die Okklusionsfront der Meinungen. 

Um meinen Horizont zu erweitern, hatte ich sogar mal ein WeltPlus Abo. Darfste heute auch keinem mehr erzählen. 

 

Ich spule lieber mal ein bisschen vor.

 

Ende der Nullerjahre. Ich hatte das Handelsblatt online abonniert, war Bankerin und studierte Politik. Der Duktus der großen Tageszeitungen, die Zusammenhänge und die Relevanz waren mir in Fleisch und Blut übergegangen. Dennoch war meine Haus-Zeitung die NRZ geblieben, weil sie näher an meiner Lebensrealität war als die anderen. Weil meine Kunden sie lasen. Weil sie auch lokal stark war. 

Immer häufiger stachen mir aber Artikel ins Auge, die sich inhaltlich und sprachlich abhoben, ohne abgehoben zu sein. Anfangs fiel mir nicht mal besonders auf, dass es einen Zusammenhang gab und warum. Das wurde mir erst in der Retrospektive klar. 

 

An dieser Stelle könnte ich nun ausführlich auf die Stärken, den Mut, die Vision und das humanitäre Engagement von Jan Jessen eingehen, seinen Schreibstil analysieren, aber ich mache es mir ausnahmsweise einfach und empfehle, den ein oder anderen Artikel von ihm zu lesen. Folgt ihm auch gern bei Facebook – hautnah, ungeschönt, denn Presse geht auch da hin, wo es wehtut. In die Krisengebiete, zu den Opfern, bis kurz vor oder im schlechtesten Fall auch an die Front. Um zu berichten, festzuhalten, zu mahnen und lehren. Für Otto Normalverbraucher gleichermaßen wie für die Herrschaften in den parlamentarischen Elfenbeintürmen.

 

 

Aber da ist immer diese scheiß Paywall, ich will mich doch bloß informieren.

 

Überraschung: Pressefreiheit bedeutet nicht „kostenfrei zugänglich“. Presse zu machen kostet Geld. Ausbildung, Recherche, Schreiben, Besprechen, Korrigieren, Planen, Reisen, Vernetzen, Weiterbildung – Druck oder Onlineversion und so weiter.

Ja, mir wäre eine Pay-per-article-Variante manchmal auch lieber, aber die Fixkosten für jedes Verlagshaus laufen ja weiter, insofern verstehe ich, dass das nicht für jeden ein funktionierendes Konzept ist. Ich persönlich bin übrigens um jede Anzeige weniger froh und mich nerven eingeschobene Bildchen, die nichts mit dem Artikel zu tun haben extrem. Also bleibt’s beim klassischen Abo für mich (!).

 

Presse verdient mehr als nur Geld fürs Informieren. Die Pressefreiheit ist im Grundgesetz verankert und muss dennoch jeden Tag aufs Neue – im Kleinen wie im Größeren – verteidigt werden. 

 

Was ich mit Jan Jessen zu tun habe, ist jetzt also klar. Er hat mit mir nix zu tun, wir sind uns nie begegnet, außer in den Kommentarspalten bei Facebook. Warum also dieses Bild?

 

Es gäbe diese Bilder nicht ohne besondere Fotografen.

 

Mir stach das Foto von Reto Klar ins Auge, ein Selfie, das er im Januar von sich und Jan Jessen in Bachmut/Ukraine aufgenommen hatte. Eines dieser Bilder, das Bände spricht. Dessen in Worte erzählte Geschichte aber ebenso notwendig ist wie das Foto, um im Kontext auch den letzten Zweifel auszuräumen, wie widerwärtig jeder Krieg ist.

 

Es zeigt eigentlich zwei Männer, zwischen sich eine große Lücke, ähnlich der zwischen Jesus und Johannes beim Letzten Abendmahl nach da Vinci, aber das soll tatsächlich nur ein optischer Vergleich sein.

Jan Jessen trägt darauf Schutzpanzer und Helm, der Situation angemessen und nötig, aber gleichwohl auch mehrdeutig. Es bedarf sicherlich auch Strategien, das Erlebte zu verarbeiten und den Hass, die Brutalität und den Irrsinn von Krieg nicht an sich heran zu lassen. Die Geschichten der Menschen, ihre Schicksale und ihre Gesichter hingegen dringen hindurch.

 

Ich habe den Winkel beibehalten, um den ersten Blick auf die Weste zu lenken, dann auf den lässigen Hoodie, der eine warme, legere Seite zeigt und klarmacht: Da steckt kein Militär drin. Das Mona-Lisa-Lächeln dieser gewachsenen Persönlichkeit weckt Vertrauen, zeugt von Verständnis und spricht quasi diesen typischen Jessen-Satz: „Wenn dein Herz nicht mehr mitspielt, bist du ein Stein.“

 

Die Flieder- und Lilatöne wirken surreal und deplatziert, so würde doch kein Journalist im Kriegs- oder Krisengebiet rumlaufen. Und auch die Schultergurte in der silbrigen Hologrammfolie ergeben auf den ersten Blick keinen Sinn. Sie sollen zur Reflexion anhalten, ein Spiegel sein. Vielleicht auch ein bisschen der „Knight in shiny armour“. Die Violetttöne galten in der Historie als Zeichen für Demut und Tugend, heute werden sie eher als geheimnisvoll und beruhigend wahrgenommen. Außerdem finde ich, dass die Farbe ihm sehr gut steht.

 

Für das Bild habe ich US-Dollar, britische Pfund jordanische Dinar, Kanadische Dollar und Ukrainische Hrywnja verwendet, nicht ganz so weitgereist wie Jan Jessen, aber ein Ansatz.

Was ich nun mit dem Werk anfange, weiß ich ehrlich gesagt noch nicht, vielleicht stelle ich mich damit am 03.05. (internationaler Tag der Pressefreiheit) vor die Zentrale der Funke Mediengruppe in Essen …

 

 

 

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